Freitag, 19. Juli 2013

Der Herr der Berge


Meine Oma ist bereits über 90, aber noch klar bei Verstand. Sie ist eine recht bodenständige, rationale Person, die nur glaubt, was sie sieht. Sogar mit ihrem tief verwurzelten katholischen Glauben hadert sie manchmal aus diesem Grund, doch dann beruhigt sie sich wieder mit der immer gleichen Formel: Aber wir müssen es ja glauben, wir müssen einfach...
Ich habe mir früher oft gewünscht, dass sie ein bisschen mehr wie die Oma aus Michel aus Lönneberga sein möge, die alte Sagen und Schauermärchen erzählt, nicht nur zum Spaß, sondern weil sie daran glaubt. Doch das ist nicht meine Oma. 
Neulich allerdings hat sie mir mal ein bisschen diesen Gefallen getan. Auf ihrem Bücherregal steht eine hölzerne Statue von Rübezahl, dem schlesischen Berggeist. Meine Tanten haben sie ihr irgendwann einmal als Erinnerung an ihre alte Heimat geschenkt. Ich sehe mir die Figur immer gerne an, weil sie mir zeigt, dass  meine eigenen Wurzeln in ein Land hineinreichen, in dem die Menschen mit einer heidnischen Götter- oder Geisterfigur aufwuchsen. Das gibt mir ein gutes Gefühl, denn ansonsten herrscht in meiner Familie der katholische Glaube und vor allem der Glaube an die Wissenschaft und Logik vor.



Jedenfalls habe ich sie auf Rübezahl angesprochen und gefragt, was er denn so gemacht habe. Nach einem skeptischen Blick und einem Das ist doch nur ein Märchen, fing sie dann aber plötzlich doch an zu erzählen, in einem beinahe verschwörerischen Ton: Rübezahl sei der Geist des Riesengebirges gewesen, er habe dort gewohnt und die Schlesier beschützt. Wenn man im Gebirge wandern war, habe man ihn ganz plötzlich vor sich sehen können. Dann habe er gegrüßt und einen gewarnt vor einem Unwetter oder einem abrutschenden Berghang. Wenn man gemein war zu ihm, schickte er jedoch schlechtes Wetter. Ich fragte sie, ob ihn bei ihr im Dorf jemand mal gesehen hätte. Nein, davon wüsste sie nichts, aber in der schlesischen Zeitung, die sie ab und zu lese, da erzählten Leute von ihren Begegnungen mit Rübezahl. Jetzt irre er übrigens im Gebirge umher und suche seine Schlesier. Denn nun sind ja nur noch "die Polen" dort, deren Sprache er nicht verstehe und deren Gesichter er nicht kenne. Ach, wo sind denn nur meine armen Schlesier? Ist denn keiner meiner Leute mehr da? Sie macht große, kummervolle Augen und ich habe das Gefühl, dass sie sich gerne identifiziert mit diesem Berggeist. Doch dann kehrt der skeptische Gesichtsausdruck zurück auf ihr Gesicht Das ist aber nur ein Geist, der kann nicht sprechen -das weißt du, oder?!


2 Kommentare:

  1. Eine schöne Geschichte. Ich liebe ja solche alten Sagen auch total gerne! :)

    Leider wurden mir auch nicht viele von unseren Geschichten erzählt, deshalb muss ich grösstenteils selbst auf die Suche danach gehen. Macht aber immer einen Riesenspass. ;)

    Liebe Grüsse
    Nicky

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  2. Hallo Nicky,

    ich finde es auch immer total spannend, den vor-christlichen Gehalt in Märchen und Mythologie aufzudecken. Mein Freund verdreht dabei manchmal die Augen "können wir uns jetzt nicht einfach mal nur so 3 Haselnüsse für Aschenbrödel ansehen?!"

    Wo suchst du denn nach alten, heidnischen Geschichten?
    Durch deinen letzten Post habe ich mir übrigens vorgenommen, auch mal wieder in die christliche Mythologie, mit der ich groß geworden bin, zu schauen. Ich musste mich eine Weile von ihr entfernen entfernen und tue es auch noch in bestimmten Bereichen, aber ich glaube, ich bin jetzt wieder offen, nach dem Gehalt in ihnen zu suchen, der für mich stimmig ist...

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